Brief an einen fragenden Freund

Lieber Freund,

Du fragst mich nach meinem therapeutischen Standort. Ich erinnere unsere unbändige Diskussionslust, der selbst die Nacht sich beugen musste. Als der Wissenschaft verpflichteter Therapietheoretiker phantasierte ich Möglichkeiten von Veränderung und Erneuerung. Der lustvollen Auseinandersetzung mit therapeutischen Konzepten blieb ich treu. Doch ich suchte auch praktische Erfahrungen. Fand persönlichen Zugang zu Therapieschulen und erlebte als Ausbildungskandidat unmittelbar wie Psychotherapie wirkt.

Ich warf mich in die nicht immer haltenden Armen der Gestalttherapie. Die schonungslose Konfrontation förderte manches Herzzittern, doch entdeckte ich auch meine verletzliche und meine kreative, spielerische Seite. Teile von mir, die ich lange unterdrückt hatte. Mein Geist aber hungerte weiterhin. Die Gestalttherapie konnte ihn nicht stillen. Nahrung versprach die Psychoanalyse. Nicht immer schmackhaft und nicht leicht verdaulich, aber doch nährend und aufbauend. Nach dem Schreien, Toben und lauthals Heulen lag ich auf der Couch. Stiller, ruhiger im Ausdruck, innerlich konzentrierter, tiefenbewegt. Manchmal wäre ich gern aufgesessen oder aufgesprungen oder im Zimmer hin- und hergerannt oder hätte meinen Lehranalytiker umarmen wollen. Diese Impulse fielen dem Ausagierverbot zum Opfer. Ich war mit meiner Bilderwelt, frühen Erinnerungen und Träumen befasst.

In der Ausbildung zum Gestalttherapeuten war ich zum Einzelkämpfer gewachsen und jetzt war ich Nachfühler und -denker, leistete Erinnerungsarbeit. Die Couch wurde zu haltgebenden, verlängerten, symbolischen Armen des mütterlichen Objektes. Mein Geist gab sich zufrieden, mein Körper nicht. Manchmal wünschte ich mir real halten der Arme.

Bisweilen wenn ich mich einsam fühlte, malte ich mir den Glückszustand aus, eine therapeutische Begleitung zu finden, die beides ermöglichte: Milde und Klarheit im erkennenden Geist sowie Ausdrucksfindung und Gestaltung innerer Impulse. Wollte mich nicht aufspalten in den nur Erkennenden oder nur Agierenden.

Ich erinnere, wie mein Gestaltlehrer kleine Pfeilspitzen mit Widerhaken zu den Psychoanalytikern schoss. Mein psychoanalytischer Lehrer warnte mich vor den lauernden Gefahren ausagierender Therapiemethoden. Später, als ich wagte, analytischen Kollegen Videobänder aus meinen Gruppen zur Anschauung und Diskussion vorzustellen, beging ich ein Sakrileg. Sie begegneten mir mit höflicher, mich verletzender Distanz. Von den gegenseitigen Vorurteilen und Berührungsängsten der Vertreter beider Lager blieb ich nicht verschont. Mein Bemühen, Psychoanalyse und Gestalttherapie miteinander zu verzahnen, ging dadurch nicht verloren.

Bei den Psychoanalytikern war ich der Gestaltverbrämte, der Infizierte; bei den Gestalttherapeuten ein Psychoanalytischgeschähter, ein Verräter und Überläufer. Ich saß zwischen den Stühlen, entheimatet. Mein Anliegen, eine Brücke zwischen beiden Verfahren zu spannen, schien aussichtslos, zum Scheitern verurteilt.

Mein Inneres setzt sie sich zur Wehr. Hatte ich doch beide Verfahren hilfreich, erkenntnisbringend und heilend erlebt. Was hier an Theorie mangelte, fehlte dort an Behandlungsüppigkeit. Im Überdenken der erlebten Erfahrungen fand ich Verbindungslinien, praktizierte die Kombination von Psychoanalyse und Gestalttherapie. Überprüfte, untersuchte, experimentierte, verwarf, fand.

Kollegen unterstützt mich. Hatten ähnliche Gedanken und Erfahrungen. Suchten wie ich und schauten auch, manchmal heimlich, über den Zaun ist psychoanalytischen Laufstalles.

Es ist wohltuend zu erleben, daß klassische psychoanalytische Ausbildungsinstitute ihre verschlossenen Tore öffnen für neue, moderne Behandlungsverfahren. Die Angst vor trojanischen Pferden ist gebannt. Der Dialog erwünscht. Das ist Verdienst vieler Kollegen und Patienten, die mit ihren kritischen Erfahrungen aus psychoanalytischer Kur und Ausbildung furchtlos Mitteilung gaben. Die Gestaltausbildungsinstitute adaptierten mehr und mehr psychoanalytische Erkenntnisse, statt sie zu entwerten. Verlangte doch mancher gestalttherapeutisch behandelter Patient nach Psychoanalyse, um das Erlebte zu verstehen, zu beziehen, einzubinden.

Die Psychoanalytische Gestalttherapie sitzt ich nicht mehr zwischen den Stühlen, sie steht auf gefestigten und tragfähigen Boden. Grundlage meines Denkens und meiner theoriebezogenen Auseinandersetzung ist die Psychoanalyse Sigmund Freuds und deren Weiterentwicklung. Ferenczi, ein Mitstreiter und Freund Freuds, hat früh psychoanalytische Behandlungsansätze propagiert und erprobt. Diese haben ihm Schelte, Zurückweisung, sogar diskriminierende Verleumdung eingebracht; doch er hat Behandlungshorizonte aufgezeigt, die noch heute von manchen klassischen Psychoanalytikern unentdeckt sind. Die Gestalttherapeuten machen sich zunehmend seinen Behandlungsfundus zunutze.

Perls ist Vertreter der Gestalttherapie. Seine behandlungstechnische Kreativität und seine Wahrnehmungsfähigkeit haben die rigiden Muster der Psychoanalyse provokant durcheinandergeschüttelt. Dabei hat er die psychoanalytische Theorie zerpflückt, war aber mit einem eigenen theoretischen Neuentwurf überfordert. Körper und Leib, bei Freud und Frenczi bedeutsam, verloren bei den psychoanalytischen Nachfahren an Gewicht. Dieser Zustand körperlicher Amnesie bedurfte der Körpertherapeuten. Leib- und Körperhaftigkeit wurden durch sie wieder hoffähig. In ihrer übereifrigen Entdeckerfreude schütteten sie jedoch das Kind mit dem Bade aus. Die leibseelische Ganzheit bekam Schlagseite zugunsten einer Überbetonung körperlichen Erlebens. Sprache war kaum noch gefragt. Der Körper sollte befreit und erlöst werden. Dazu genügten Comiclaute wie: Oh, Ah, Uh, Au. Erlösung ist nicht Psychotherapie, sondern Religion. Meine Psychotherapie bemüht sich um die Verbindung und Beziehung von Leib und Seele. Mein Fundament gründet sich hier auf Al Pesso. Sein Therapieansatz ist körperbetont, aber nicht eingehängt darauf. Der Körper ist Wahrnehmungswelt menschlichen Erlebens, Fühlens, Erinnerns. Körper- und Wortsprache ergänzen sich und bilden eine Ganzheit.

Mein philosophischer Hintergrund findet sich bei dem Philosophen Jean Gebser.

Er ist Wegbereiter einer integralen Weltsicht.  Mit dem Begriff des integralen Bewusstseins versucht er, die Abhängigkeit von der materiellen Welt und den daraus sich ergebenden Gefahren zu überwinden.  Als Kulturphilosoph, Kritiker, Literat und Mensch war er der authentischen Verpflichtungen zur Erkenntnis der Gegenwart verbunden.  Die Verantwortung des Menschen sieht er in der Pflicht zur Antwort auf die Welt und zur Einsicht in das Notwendige, ohne diesem aus blindem Schicksal zu verfallen.

Mein eigener Beitrag zur Fundamentsicherung der Psychoanalytischen Gestalttherapie besteht in der Ordnung der Denkmodelle, der Verbindung der gegenseitigen Bezogenheit und der Vernetzung zu einem handhabbaren psychotherapeutischen Verfahren, das versucht der individuellen und psychologischen Wahrheit des Menschen näherzukommen. So ist die Psychoanalytische Gestalttherapie Ergebnis einer Zusammenführung unterschiedlicher Grundelemente zu einer hilfreichen, neuen Substanz mit therapeutischer Wirksamkeit. Dieser Therapieansatz ermöglicht auf diesem gesicherten Boden behandlungstechnische Ansätze, die die psychoanalytische Prozedur dort überwinden, wo sie formal erstarrt ist. Er gibt dort Struktur, wo sie in Diffusion, Chaos und Zufälligkeiten abgleitet.

Prüfendes Bezugssystem ist das psychoanalytische Denkmodell, das unbestritten über Krankheitsentstehung, Entwicklungstheorie, Psychodynamik, unbewusste Dynamik, Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessse den wissenschaftlich fundiertesten Rahmen bereitstellt.

Mein psychotherapeutischer Ansatz nutzt die Verbalisierung ebenso wie den Körper, die Berührung, die Antwort, das Mitfühlen. Der Erkenntnisgewinn für Patient und Therapeut erweitert sich. Einschränkende Vorgaben, wie Liegen oder anderes, entfallen zugunsten eines interaktiven Feldes, in dem mit sachlich anteilnehmender Beobachtung Entwicklung erfolgt. Die Handhabung behandlungstechnischer Variationen, also das Handwerkszeug des Therapeuten, ermöglicht ein angemessenes Angebot, das vom Patienten keine einseitige Anpassungsleistung oder Unterwerfung erfordert. Der Therapeut stellt sich auf den Patienten ein. Wenn Patienten bei Jungianern jungianisch, bei Freudianern freudianisch, bei Gestalttherapeuten gestalttherapeutisch träumen müssen, um verstanden zu sein, statt sich selbst träumen zu dürfen, skizziert das den Mangel an behandlungstechnischer Offenheit.  Wir suchen mit dem Patienten in wohlwollender Zusammenarbeit nach Erkenntnis, Hoffnung und Ausweg aus Erstarrung und Rigidität.

Eine reglementierende, einschränkende Über-Ich- verhaftete Kontrolle verstopft den Weg aus seelischer Labyrinthik. Auf dem Weg zu Denk- und Handlungsfreiheit setze ich auf den suchenden, nicht auf den omnipotenten Therapeuten.

Du siehst, lieber Freund, mein wichtigstes Anliegen ist die Güte und Klarheit psychotherapeutischer Arbeit.

Mittlerweile arbeiten viele Kolleginnen und Kollegen an einer Verbesserung psychotherapeutischer Strukturen in Therapie und Ausbildung. Die inhaltliche Auseinandersetzung ist unerlässlich. Die persönliche Unzulänglichkeit ruft nach kritischer Distanz, um die Qualität therapeutischen Tuns sicherzustellen. Offenheit für sich und andere, emotionale Aufgeschlossenheit, Neugier, kreatives Suchen sowie Kenntnis des eigenen Wahrnehmungssensoriums im Bereich Körper, Gefühl, Empfindung, Geist sind nicht Worthülsen, sondern in meiner psychotherapeutischen Arbeit erleb- und erfahrbar.

Der Angelpunkt meines Ansatzes fasst dieser Satz: Am Anfang ist Beziehung. Beziehung ist immer konkret, ob mit einem Menschen, einem Gefühl, einem Gedanken, einer Idee, einem Traum, dem Unbewussten. Alles menschliche Leid ist enthalten in und entdeckt sich aus konkreter Beziehungsarbeit im Hier und Jetzt sowie der Aufdeckung gelebter Beziehungsgeschichte. Therapie ist heilsame Beziehung. Solch eine Beziehung schafft und fordert Raum. Der Patient benötigt einen sicheren und geschützten Raum. Der Patient bleibt da in neurotischer Abhängigkeit und Wiederholungsqual gefangen, wo elementare Bedürfnisse real oder symbolisch ungesättigt, unerfüllt, frustriert, verweigert, nicht beantwortet, versagt wurden. Ohne geschützten Raum ist das Leben gefährdet. Ohne Nahrung stirbt jede Beziehung. Ohne stütz- und rückhaltgebende Begleitung bleiben Aufrichtigkeit, Struktur und persönliche Haltung fragil.  Ohne schützende Hände, die Übergriffen Einhalt gebieten, wird Unglück erzeugt. Im Außen geschützt, gelangt der Patient zu innerer Offenheit

Beziehung vermittelt natürliche Grenzen. Missachtung und Überschreitung von Grenzen führt zu Erlebnissen von Panik, zu Zuständen von Selbstverlust bis hin zum psychotischen Zusammenbruch. Der Grenzenlose geht verloren im ozeanischen mehr narzisstischer Omnipotenz. Nur der geschützte, begrenzte Raum ermöglicht es die Menschen, sein gekränktes Kind vor die Tür zu verführen und sich in all seiner Not, seiner Angst und seinem Elend zu zeigen, ohne vor Scham zu sterben.

Feindbeseelte Konfrontation stärkt den Abwehrpanzer und lässt das gekränkte Kind hoffnungslos allein.

Ich weiß um die Schwierigkeit, therapeutische Prozesse, Handlungen, Interventionen und Haltungen im Schreiben nachvollziehbar zu machen. Spielt doch die atmosphärische Verdichtung des Beziehungsfeldes eine der Hauptrollen auf der therapeutischen Bühne. Selbst differenzierte und bildhafte Beschreibungen einzelner Therapiestunden wirken blass und farblos gegen das unmittelbare Erleben.

In meiner therapeutischen Arbeit sind Übungen, Selbstwahrnehmung, Dialogarbeit, Theorievermittlung, Traumanalysen und zusammenfassende Nachbesprechung so miteinander kombiniert, dass ein Wachstumsprozess in einem geschützten Raum- und Zeitkontinuum möglich ist. Mein Instrument ist ein therapeutisches Beziehungsangebot. Grundlage ist die Schulung differenzierter Wahrnehmung im Bereich des Geistes, des Gefühls, der körperlichen Empfindungen, der Gedanken, Fantasien, Träume, Bilder, der Veränderungen atmosphärischer Zustände, der Analyse von Übertragung und Gegenübertragung.

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Unfassbare Fremdheiten