Landschaften der Seele

In den 30 Jahren meiner analytischen Tätigkeit habe ich eine Fülle von Seelenlandschaften erblickt, wurden mir Szenarien gezeigt, teilte ich Innenbilder meiner Patienten und erwanderte und erkundete bizarre, einfache, vielfältige, graue, düstere, steinige Seelenlandschaften, die mich entsetzten, verzauberten, ängstigten, erfreuten, hoffen ließen, erschütterten und die am Erlöschen waren.

In diesen Texten möchte ich den Leser teilhaben lassen an meine Eindrücken, den meiner Patienten und den vielschichtigen Interaktionen, die sich daraus ergeben haben. Ich schütze die Identität meiner Patienten durch eine gewisse Entfremdung, ohne jedoch die Inhalte zu verändern und danke ihnen für das Vertrauen, dass sie mir in den Jahren der gemeinsamen Bezogenheit geschenkt haben.

Als angehender Psychoanalytiker, ich hatte noch mein Abschlusskolloquium vor mir, arbeitete ich einer Praxengemeinschaft von Psychiatern und Psychoanalytikern. Eine fruchtbare Zusammenarbeit für etliche Jahre bis die Gemeinschaft zerbrach. Ich war Youngster, die ersten Patienten wurden mir zugewiesen.

So saß eine ältere Frau vor mir, eine Mutter, die ihren geliebten Sohn durch einen Verkehrsunfall verloren hatte, er wurde abends auf seinem Mofa von einem alkoholisierten Autofahrer erfasst, dieser flüchtete zunächst und konnte später gefasst werden. Der Unfall geschah in Sichtweite ihres Hauses. Sie kam nach ca. 6 Tagen in die Praxis, weil sie es nicht mehr ertrug, dass sich die Unfallstelle in ihre Augen und ihre Seele bohrte, jeden Tag aufs Neue.

Mir sagte man: Da sitzt eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat.

Wie sollte ich dieser Mutter denn helfen. Durchatmen statt weglaufen, hingehen und in die verweinten Augen schauen. Sollte ich mich schützen vor oder öffnen für die Trauer der Mutter? Gab es Trost? Religion war meine Sache nicht, also beten und ein höheres Wesen anrufen, war obsolet für mich, einen Sinn in diesem sinnlosen Hergang zu finden, schien mir eine Rohheit gewürzt mit einem Hauch Zynismus. Wie trauert man. Phasen der Trauer aus den Seminaren durchgehen und die Mutter diagnostizieren? Ich war allein in meinem Behandlungsraum mit dieser Mutter, deren Seelenlandschaft zerstört schien, ergraut, geflutet mit den toten Augen des Sohnes, den sie geliebt und der sie geliebt hat.

Da saß sie nun mir gegenüber, klein, zart, gebrochen, schaute mich mit tränennassen Augen an. Ich wollte den Blick wenden, aber zwang mich zu schauen in die Finsternis, in der sie gelandet war. Ja, dachte ich, so sieht Trauer aus, so fühlt sich Schmerz an, sie schien mir wahrhaftig in ihrem Erleben und in diesem Moment wurde ich oder fühlte mich zumindest auch wahrhaftig, war ein Mensch ohne Absichten, ohne Erwartungen, es war als fiele etwas von mir ab, meine Atem wurde freier, meine Blick gerader. Ich sehe deine Trauer, sie fühlte sich auch gesehen, wurde ruhiger, löste sich aus ihrer Sprachlosigkeit und sprach über ihren Sohn, die ersten Jahre seines Lebens, ihre Freude, ihre Ängste, ihre Wünsche. Sie war mit ihm verbunden  und ich war mit dem Sohn verbunden und mit ihr. Wir begegneten einander als fühlende Wesen. Ich hielt ihre Hände, einfach so, es war ein Impuls, sie ergriff sie und hielt sie fest, ein Schmerz schüttelte ihren Körper, dann löste sie ihre Hände von den meinen, trocknete die Tränen und ging.

Ich blieb still zurück.

Wir trafen uns noch einige Male. Sie durchwanderte mit mir die Trauerfeier und den Nachgesang auf den verlorenen Sohn.

Ich nahm für mich eine Erkenntnis mit, die mich bis heute begleitet: Schmerz und Trauer sind für mich zarte Blüten, die der Seelenlandschaft einen matten Glanz verleihen, der gesehen werden möchte.

Der kollegiale Austausch machte mich mutiger, ja wagemutiger. Ich wurde geschätzt und traute mir fast alles zu, womit ich mir eine gefahrvolle Situation bescherte.

Ich behandelte eine Frau, deren Mann sie schlug, drohte, gewalttätig mit seiner Familie umging. Beide hatten 2 Kinder, eine Tochter, die behindert schien und ein Sohn, der in Mutters Bett kroch. Der gewalttätige Vater litt an seinen psychotischen Schüben, die ihn immer wieder in die Psychiatrie führten. Dort war auch kaum zu bändigen und zerstörte alles, was ihm zwischen die Finger kam. Seine Frau wollte ins Frauenhaus flüchten und bat mich ihr dabei zu helfen. Als wir über die Tyrannei des Mannes sprachen, schüttelte sie ihren Hass und ihre Wut aus sich heraus und ihre Hasswellen brachen über mich herein.

Das Frauenhaus sollte ihr zur Zuflucht werden, aber sie benötigte noch einen bereits gepackten Koffer aus dem gemeinsamen Haus und bat mich, sie dabei zu begleiten. Im Überschwang meiner Kräfte und mit der Idee den sozialpsychiatrischen Ansatz unserer Praxis mit der psychoanalytischen Methode zu verbinden, wurde diese Handlung für mich ein Ritt z einer massiven Selbstgefährdung. Mit meinem Auto zum Haus der beiden Streitenden. Sie spähte aus, ob der Mann zuhause war. Alles war ruhig, wir gingen ins Haus, sie holte den Koffer aus der ersten Etage, kam mit dem Koffer in Hand die Treppe herunter und der Mann stand im Flur. Sah mich im Wohnzimmer wartend und stürzte sich schreiend auf seien Frau, die in einen anderen Raum floh. Sie versuchte ihn zu beschwichtigen, auch ich wollte mich als angstfreier souveräner Therapeut anbieten, allerdings schlug der Versuch fehl. Er schrie und beschimpfte uns beide. Ließ die Rollläden herab, rannte dann in den Keller und wollte sein Gewehr holen, um uns zu bedrohen. Ich war voller Angst zwischen Lähmung, Entsetzen und Flüchten, fürchtete noch mehr um meine Leben als um das seiner Frau. Ein Moment seiner Unachtsamkeit nutzte ich für die Öffnung des Rollladens und flüchtete durch das Fenster und über den Balkon hinaus zum Auto. Er war sehr perplex und diesen Moment nutzte auch seine Frau, um zu mir ins Auto zu fliehen. Er schoss nicht hinter uns her, ich war zitterig, aber gerettet und die Frau auch. Aber das Drama war noch nicht beendet. Ich sah beim Fortfahren, das der sein Auto, das auf der Straße stand, wendete und mit im rasenden Tempo hinterher fuhr. Wohin, dachte ich, wo war ich sicher? Ich raste zur Praxis und sperrte seine Überholversuche. Ich kam zur Praxis und stürzte hilfeschreiend hinein, die Frau hinterher. Die Praxistür verriegelte, er tobte, fuchtelte mit dem Gewehr, aber ohne zu schießen. Die Polizei brachte ihn in die Psychiatrie, die Frau kam ins Frauenhaus.  Ich war traumatisiert und dennoch vereinbarten wir miteinander und mit einer Kollegin mit diesem Paar therapeutisch zu arbeiten. Sie wollten keine Trennung. Sie liebten und sie schlugen sich, weitere therapeutische Bemühungen blieben erfolglos, aber nicht seine Wut auf mich. Täglich nach der Arbeit in der Praxis nahm er ich mit einer Drohgebärde in Empfang. Setzte ich mich auf mein Fahrrad, folgte er mir mit seinem. Beschimpfte mich, drohte mir, versuchte auch mich abzudrängen oder zu Fall zu bringen. Ich hielt stand mit Angst im Herzen. Dann aber drohte er mir, meinen Kindern Böses anzutun. Ich fühlte Wut ob meiner Ohnmacht und sehnte mich nach einem Ausweg, nach einem andern Leben.

Aber ich wollte nicht aufgeben, hatte ich doch ein eigenes Unverstehen mit in die Situation eingebracht. Regel: Verstehen, aber nicht Handeln, so als ob Handeln immer etwas unüberlegtes sei, etwas unverstandenes, aber Handlung kann auch ein Ergebnis eines Verstehensprozesses sein, nicht immer ganz durchdacht, aber wer könnte behaupten, er habe jemals etwas oder alles bis hin zur letzten Konsequent durchdacht, das man das kann, können sollte oder gar müsste, ist eine Fiktion, die der Unterdrückung von intuitiven spontanen Handlungsinterventionen dienen.

Ich schien in dieser Szene mehrfach verwickelt. Ich wollte ein Held sein, der sich vor nichts und auch gar nichts fürchtet. Ich hatte aber immer eine gewisse Scheu und auch Angst vor körperlicher Gewalt. Gleichzeitig bewunderte ich Menschen, die zu körperlicher Gewalt fähig waren und diese auch mutvoll einsetzen. Ich wollte Erfolge, wollte bekannt werden als ein unerschrockener Psychoanalytiker, der Herz, Hirn und Hände hätte und der etwas bewirken kann und unbedingt erfolgreich ist. Die Psychose bannen, die Gewalt besänftigen, Heilungskräfte in eine desaströse Beziehungsstruktur hineintragen und das unzulängliche menschlichen Wesen erträglicher zu gestalten.

In dieser Szene hatte ich vollkommen versagt. Ich hatte mich bedrohen lassen, die hatte mich tief getroffen und verunsichert, das Paar lebte weiter als streitendes Paar, die Ehefrau kehrte reumütig aus dem Frauenhaus um Ehemann zurück mit den Kindern, die in diesem Tal des Todes weiter- oder besser überleben mussten. Es gab keine weiteren Kontakte zu diesen streitenden, hassenden Paar, das diese Spannung nicht nur ertrug, sondern suchte und davon zehrte.

Ich blieb erschüttert zurück mit meiner Ohnmacht und Hilflosigkeit, die ich noch häufiger zu ertragen lernen musste. Meine narzisstischen Hörner wurden dabei mehr und mehr abgeschliffen, ein Segen für mich und für meine Patienten, weil ich damit mir und ihnen tiefere Verletzungen  ersparte.

Eine andere Patientin, an die ich mich immer noch sehr lebhaft erinnere, kam aus einem  sehr begüterten und hochrangigen schwedischen Elternhaus und hatte nach Deutschland geheiratet. Ein viel beschäftigter Mann mit dem sie 2 Kinder hatte und eine unerfüllte Ehe führte. Sie war vereinsamt, isoliert, sehnte sich nach der schwedischen Gesellschaft, der Natur, der Offenheit. Hier war sie Mutter und Hausfrau und entwickelte eine depressive Symptomatik mit Rückzug, Verweigerung und Schmerzen. Ich erfuhr aus ihrem trostlosen Ehealltag, von der Eintönigkeit in der Kindererziehung, die zudem diametral entgegengesetzt waren zu den Vorstellungen ihres Mannes, der eher deutschen Prinzipien anhing. Der Alltag war angefüllt mit Leere oder mit Kampf und ich spürte die Not dieser Patientin unmittelbar. Meine Fantasie war, sie erlösen zu wollen und zu wissen, dass das nicht möglich sein kann, sondern, dass sie einen Weg aus diesem Elend finden müsse. Diese Situation zu ertragen war mir selbst ein Gräuel und manches mal fühlte ich mich verzweifelt. Ihr jedoch schienen unsere Gespräche gut zu tun. Ich erfuhr viel über das schwedische soziale System, sie träumte in schwedischen Bildern, die den deutschen Traumbildern so gar nicht ähnelten. Ich lauschte ihr dann gebannt zu, wenn sie sich nicht über ihre Ehe beklagte, sondern sich in Schweden aufhielt und mit mich in ihrer Fantasie dahin mitnahm. Dort schien alles heiter, unbeschwert, ein Leben in Glück, Harmonie und Frieden möglich. In diesen Erzählungen war sie eine andere Frau, belebt, ihre lebendigen Augen strahlten und sie umgab ein Zauber, wie eine schwedische Elfe. Sie war blond, schlank, eine hübsche Frau, der ein Zauber innewohnte. Ich begann den Ehemann zu beneiden und gleichzeitig zu beschuldigen, ich war für eine Zeit nicht neutral. Sondern ganz auf der Seite meiner Patientin. Sie fühlte sich damit angenommen, entwickelte wieder Freude an ihrem Leben, fand eine neue Aufgabe für sich und war darin auch erfolgreich.

Es kam zu einem Abschlussgespräch, wir tauschten unsere Erfahrungen gegenseitig aus, was ist oder konnte nicht gesagt werden. Dann platzte sie heraus mit einer fantasierten Sehnsucht: am liebsten wäre ich mit ihnen durchgebrannt, ich hätte sie gern an meine Hand genommen und wir wären einfach fortgezogen in die Welt. Mit ihnen wäre ich glücklich geworden.

Das was ich mir vielleicht in einigen Sitzungen auch sehnlichst gewünscht hätte, aber nie zu denken gewagt hätte, sie hatte es auch für mich formuliert.

Es war nur eine Fantasie, aber bisweilen frage ich mich, was wäre wenn? Ein anderes Leben, eine vertane Chance, eine moralische Schranke oder war es eine reife Haltung, diesen Impuls bei mir zu unterdrücken?

Ich schaute ihr beim Abschied lange nach, wünschte ihr ein erfülltes Leben, an dem ich für Stunden beteiligt war.

Eine weitere Erfahrung mit einer Kulturform erlebte ich in der Behandlung einer spanischen Patientin. Sie war Studentin und litt unter den Gefühlen von Einsamkeit, Leere und war im Begriff in eine schwere Depression abzugleiten.

Ihren Vater kannte sie nicht, er hatte sich bei der Geburt von dannen geschlichen. Die Mutter war ob der Schande geächtet und beschämt und konnte sich der Tochter kaum liebevoll zu wenden. So wurde sie in einer Klosterschule von den Nonnen unterrichtet und erzogen oder besser unterworfen. Schwere Schuldgefühle, sie war ein Kind der Sünde, ein Abkömmling des Teufels, lasteten auf ihr. In ihren Träumen tauchten furchtbare Dämonen auf, die in Kirchen oder in Klöstern auf sie lauerten und sie vernichten wollten, fressen, zerreißen, zerstückeln, gewaltige mittelalterliche Bilder fluteten in den Träumen in sie hinein und durch sie hindurch. Wie konnte ich ihr helfe, den Kampf mit den Dämonen zu wagen und sie schließlich zu besiegen, um ein halbwegs angstfreies und lustvolles Leben zu führen? Sie und ich hatten die ganze Inquisition, die ganze spanisch-katholische Kirche gegen uns, eine Auseinandersetzung zwischen Goliath und David.

Ihr Einsatz war hoch, sie wagte viel in ihrer bedingungslosen  Offenheit, lieferte sich ihrem unbewussten Qualen aus, trieb immer weiter hinein  in einen Strom verstörender Bilder und ich trieb mit, wollte mich immer wieder festhalten an Bruchstücken einer guten Erinnerung, aber ich wurde fortgerissen, fort geschleudert, verlor die Orientierung, fand sie mal wieder, um sie sofort wieder zu verlieren.  Ich gab meinen analytisch anerzogenen Widerstand auf und stürzte mich mit der Patientin in ihren Bilderwahnsinn, goyagleiche Bildimperien durchstreiften wir mit erschrecktem Herzen, fanden das ungeliebte ausgestoßene Kind. Diese ihre Wahrheit zeigte sich uns schonungslos und wir konnten beide dieses Kind beweinen. Es war wie ein Auftauchen aus einem dunklen Wasser, man kommt an die Oberfläche und schnappt nach Luft, ist geblendet von soviel Licht, atmet, sieht, wir haben beide überlebt, eine Art persönlichen Holocaust. Das Leben wird danach  nicht unbedingt leichter, aber es entsteht Klarheit, eine andere Art der Verantwortung und eine neue Entscheidung für das eigene Leben.

Sie konnte ihr Studium erfolgreich beenden und wollte dann zurück nach Spanien, nicht ins Mutterland, aber vielleicht in die Heimat.

Eine weitere analytische Herausforderung erlebte ich mit einer  russischen Patientin, die ihren attraktiven Körper hasste.

Haben Hass und Liebe die gleiche Wurzel? Geht Liebe immer mit Hass einher und umgekehrt? Ist Liebe älter als Hass oder Hass älter als Liebe? Gehört Hass zu den Grundaffekten des Menschen oder ist sie ein Trieb oder Triebderivat? Wohnt sie der menschlichen Natur immanent inne, ist sie genuin, Folge eines Mangelzustandes oder einer Traumatisierung?

Hass begegnet einem jeden Tag und jede Nacht. Die Beschäftigung mit Hass und Hassaffekten und seinen Folgen öffnet die Büchse der Pandora. Der sachliche Blick wird erschwert durch Überlagerungen von externen und internen kindlich-moralisierenden Vorstellungsbildern und/oder durch begütigend-brüchige Verharmlosung. Immer aber verunsichert und ängstigt der Hass und unterliegt einer sozialen Abwehr.

In der differenzierenden Auseinandersetzung mit dem Hassbegriff stieß ich auf  gefahrsignalisierende Gleichsetzungen oder auf Begriffe, die Hassfolgen ausdrücken. Der Hass kommt Hand in Hand einher mit Aggression, Wut, Zorn, Feindseligkeit, Destruktion, Grausamkeit, Triebentmischung, Objektfeindlichkeit, Ekel, Abscheu, Terror.

Freud differenzierte die herkömmliche Meinung, dass Liebe und Hass zwei Seiten einer Medaille sind. Denn nach seiner Meinung steht die Liebe zu den Sexualtrieben in Beziehung, der Hass aber habe keine so innige Beziehung zur Sexuallust und zu den Sexualfunktionen.

„Das Ich hasst, verabscheut, verfolgt mit Zerstörungsabsichten alle Objekte, die ihm zur Quelle von Unlustempfindungen werden, gleichgültig, ob sie ihm eine Versagung sexueller Befriedigung oder der Befriedigung von Erhaltungsbedürfnissen bedeuten. Ja, man kann behaupten, dass die richtigen Vorbilder für die Haßrelation nicht aus dem Sexualleben, sondern aus dem Ringen des Ichs um seine Erhaltung und Behauptung stammen. Liebe und Haß, die sich uns als volle materielle Gegensätze vorstellen, stehen also doch in keiner einfachen Beziehung zueinander. Sie sind nicht aus der Spaltung eines Urgemeinsamen hervorgegangen, sondern haben verschiedene Ursprünge und haben ein jedes seine eigene Entwicklung durchgemacht, bevor sie sich unter dem Einfluß der Lust-Unlustrelation zu Gegensätzen formiert haben.“ (Freud 1999, GW Bd. X S.230-231).

Daher habe der Hass einen anderen Ursprung als die Liebe. Zwar seien die Vorstufen der Liebe, die sich ja zum Teil in der Bemächtigung des Objektes zeigen, zunächst vom Hass kaum zu unterscheiden und von daher könnte man formulieren, dass der Hass zum Objekt älter sei als die Liebe und insofern sei jeder Hassimpuls, der der Liebe beigemengt ist, Teil einer nicht überwundenen Vorstufe des Liebens. Der Hass entspringe doch immer der uranfänglichen Ablehnung der reizspendenden Außenwelt von Seiten des narzisstischen Ichs.

Dornes stellt Freuds Behauptung, die übrigens von Steckel zuerst formuliert wurde, dass der Hass älter sei als die Liebe, in Frage. Er bezieht diese Behauptung, die bis in die siebziger Jahre hinein aufrecht erhalten wurde auf Ansichten und Sichtweisen, in denen der Mensch eine zunächst gesellschaftsfeindliche und unsoziale Kreatur ist, die sich  nur mühsam und nicht ohne Wiederstände an- und einpasst. (Dornes 2001, S. 54). Er rettet den Säugling, stellt ihn als kompetent dar und konnte sich des Zuspruchs erfreuen. Insbesondere die Selbstpsychologen haben diesen Aspekt im Rahmen der Säuglingsforschung aufgegriffen, aber zum besseren Verständnis des Hasses haben diese Ergebnisse bisher nicht geführt.

Der Hass ist und bleibt ein Stiefkind denkend forscherischer Ansätze. Obwohl er eine emotionale und psychische Kraft und Intensität entwickelt, die mit der Liebe durchaus konkurrieren kann. Die psychische Energie des Hasses ist größer und notwendiger als wir glauben wollen.

In meiner Beschäftigung mit dem Thema Hass neige ich der Position von Freud zu, dass der Hass aus dem Ringen des Ichs und seiner Erhaltung und Behauptung entstanden ist. Ich verstehe den Hass als Abwehr gegen eine schwere narzisstische Niederlage und als ein energetisches Potential, das der Sicherung des Selbst dient.

Die schwerste narzisstische Kränkung, die der Mensch hinnehmen muss und die real selbst- und existenzbedrohlich ist, ist die Sterblichkeit. Die unausweichlichste Niederlage, die durch unterschiedliche Auferstehungs-Mythologien gemildert werden soll, bleibt der Tod. Insofern hat der Hass eine Beziehung zu der Todestriebposition Freuds.

Aber auch am Anfang unseres Lebens wartet eine schwere narzisstische Krise auf den „kompetenten“ Säugling. Diese ist allerdings weniger im Bewusstsein verankert und ihm auch weniger zugänglich. Sie wird mehr diffus körperlich erlebt. Diese Kränkung resultiert aus der Unfähigkeit zur Selbstschöpfung. Diese Unfähigkeit geht über Kränkungserlebnisse, die aus der Abhängigkeitserfahrung von den Primärobjekten herrühren, weit hinaus. Die Erkenntnis, dass man niemals ganz der Eigene sein kann, bei allen Bemühungen die man unternimmt,  sondern immer auch Teile von den Erzeugern in sich trägt, die sich in psychischen und körperlichen Ähnlichkeiten ausdrücken, kann niederschmetternd sein. Die ständige Erinnerung, dass man ein Produkt, ein Gemisch ist und sich nicht aus sich selbst heraus generieren konnte, ist eine der größten Bedrohungen des Ichs, seiner Erhaltung und Behauptung. Diese Kränkung lässt sich nicht mildern, nicht beheben, sie ist Bestandteil der inneren psychischen Welt. Viele alte und moderne Versuche der Selbstschöpfung zeugen von dieser psychischen Krisensituation und alle sind zum Scheitern verdammt. Die Retorte, das Klonen, der Homunkulus im Faust, oder bei Mulisch in seinem Roman Die Prozedur . Dort wird die Geschichte eines Mannes und Wissenschaftlers erzählt, dem es zwar gelingt wie Gott zu sein, toter Materie Leben einzuhauchen und damit Leben zu erschaffen, der aber sein eigenes Kind nicht zu retten vermag.

Meist mutieren die selbst geschaffenen Geschöpfe wie in Horrorfilmen zu Monstern, die kalt und gefühllos mordend durch das Land ziehen und letztlich ihren Schöpfer der „gerechten“ Strafe unterziehen. Selbstschöpfungsansätze gelten stets als vermessen und sind nur in symbolisierter und transformierter Form zugelassen und erträglich.

In der folgenden skizzenhaften Darstellung einer Kranken- und Behandlungsgeschichte versuche ich, der Thematik weiter nachzugehen und Ansätze einer körperanalytischen Behandlungsmethode darzustellen.

Es kommt eine 30jährige Patientin in Behandlung, die mit sich selbst im Streit liegt, sich und die Menschen in ihrer Umgebung hasst. Sie hat sich in den hintersten Winkel ihrer Wohnung zurückgezogen, schläft in der Besenkammer, fühlt sich bedroht und manipuliert. Sie hat ein einziges Ziel: sie will sich selbst erschaffen. Sie erträgt es nicht, von dieser Mutter und diesem Vater zu stammen. Erzeuger und Bezugspersonen, denen sie ausgeliefert war, die sich ihrer bemächtigt haben, die sie mit den eigenen Ängsten über die Welt infiziert und angesteckt haben. Sie sollte sich ganz in die Vorstellungsbilder der Eltern verwandeln, eine eigene Kreation wurde ihr verwehrt. Die eigene unverarbeitete narzisstische Kränkung der Eltern, sich nicht selbst produzieren zu können, führte zu einem Verbot von kindlichen Selbstschöpfungsfantasien und gleichzeitig zu einer psychischen und physischen Bemächtigung. Das Aussehen, die Kleidung, die Kontakte wurden vorgeschrieben. Abweichungen waren mit Strafe, Missachtung, Liebesentzug, Drohung und Gewalt belegt. Allein die Flucht zu den Großeltern war ein Ruhekissen.

Die Patientin entwickelte sich zu einer Marionette, die sich ihren Erzeugern unterwarf. Unterwerfung wurde zum Lebensentwurf. Als Vorführdame machte sie sich zum Objekt von Modeschöpfern, folgte willig den Anweisungen anderer Menschen, wurde zur Gespielin, eine willfährige Puppe. Sie verlor sich selbst mehr und mehr, reagierte mit Panik und massiven Selbstverlustängsten als ihr Beschützer/Beherrscher ihrer überdrüssig wurde. Sie entwickelte heftigste Symptome wie Angst, Unruhe, Schlaflosigkeit und paranoide Ideen.

Sie war nicht in der Lage, ihren gegebenen Real-Körper als zu sich gehörig zu entdecken. Sie war Fremde im eigenen Körper.

In ihrer größten Not, als sie sich im Spiegel schon nicht mehr zu erkennen glaubte, entwickelte sie eine Art Selbsttherapie. Sie entwarf für sich einen Selbstschöpfungsmythos. Sie erschuf und formte sich selbst. In ihrer Fantasie entstand ein Körper, ein Modell ihrer selbst. Sie fertigte auf Papier einen Schnittmusterbogen von sich. Schließlich begab sie sich in die Hände von plastischen Chirurgen. Diese sollten den Selbstschöpfungsakt vornehmen. Der Selbsterschaffungswahn der Patientin füllte zwar den Geldbeutel, aber erfreute die plastischen Chirurgen nicht. Sie waren überfordert, verstanden nicht den psychischen Beweggrund und litten unter der Kritik der Patientin, die mit dem Ergebnis nie zufrieden war. Sie hatte das Gefühl, dass die plastischen Schöpfungsgehilfen immer zu Schöpfern mutierten. Sie schufen Veränderungen nach einem Schönheitsideal, das nicht mit dem Wunsch der Patientin übereinstimmte. Schließlich schickten sie sie zum Psychoanalytiker.

Sie erschien mit einer Warnung auf den gestylten Lippen. Ich solle ja nicht versuchen, ihr diese Operationen auszureden, denn diese seien das einzige, was sie am Leben erhielte.

Auf der Verhaltensebene schien sie unter autoaggressivem Verhalten zu leiden. Sie lässt an sich herumschneiden, scheint ihren destruktiven Impulsen ausgeliefert zu sein, verletzt sich selbst und meint damit die Primärobjekte. Hat vermutlich noch einen Lustgewinn aus den Schmerzen, ist masochistisch organisiert. Doch diese Schublade passte mir nicht. Ich spürte noch etwas anderes, eine Unerbittlichkeit, eine Sehnsuchtsstärke und eine entgrenzte Verlassenheit, die mich erschütterte. Die Patientin wurde in ihrem Hass und ihrer Autogenese nicht verstanden. Es ging ja nicht um eine ästhetische Korrektur. Die Operation sollte ein Schöpfungsakt sein. Sie wollte erwachen und sich dann als die erkennen, die sie war. Hoher Geldeinsatz und  Erdulden von Schmerz waren unbedeutend für das Ziel. Die Patientin war eine attraktive, ästhetisch geformte Frau. Es ging nicht um Retuschierung oder Korrektur einer hässlichen Nase oder eines hängenden Lides, es ging um den Akt der Selbstschöpfung. Am liebsten hätte sie sich auch selbst operiert, aber da gab es eine reale unüberwindbare Grenze.

Mit dieser Selbstschöpfung und Selbstwerdung als Inszenierung am eigenen Körper versuchte sie, sich vor der drohenden Desintegration und der Gewalt ihrer narzisstischen Kränkung, d.h. vor dem Zusammenbruch ihrer Ich-Funktionen zu schützen. Sie sparte jeden Pfennig, um ihre Sehnsucht zu realisieren, sich selbst nach ihrem eigenen inneren Bild zu erschaffen, Selbstschöpferin zu sein. Nur damit konnte sie sich über die Demütigungen und über die massiven Bemächtigungs- versuche ihrer Primärobjekte erheben.

Ich konnte meinen starken Gegenübertragungsimpulsen, sie zu retten, sie zurechtzu- weisen, sie zurückzuhalten, sie zu bestrafen, nur schwer standhalten. Es war für mich äußerst schwierig ihre Operationsaktivitäten zu dulden, die Klagen über das Misslingen der Operationen, die Enttäuschungen, wenn eine Operation nicht  nach ihren Wünschen abgelaufen war, auszuhalten, ihre kurzen Hoffnungen und Euphorien hinzunehmen, wenn eine Operation gelungen schien, sie sich ein wenig ähnlicher fühlte, bis der kurze Stolz auf eine gelungene Kinnlinie  wieder verfiel. Ich musste der Versuchung standhalten, ihr diese Operationen auszureden, musste konsequent ihren Weg der Selbstschöpfung begleiten und ihr Wege eröffnen, die es ihr erlaubten, ihre Selbstschöpfungs- und Selbstverwirklichungsbedürfnisse zu symbolisieren. Ich musste mit ihr die schmerzlichen Niederlagen  nach den Operationen teilen. Ich musste für sie die Hoffnung aufrechterhalten, ihr Plan könnte gelingen, auch  wenn sie  wieder und wieder erleben musste, dass der Operateur nicht ihrem Schöpfungswillen folgte, sondern seine Schöpfungsfantasie in sie hineinschnitt.

Alle Formen der transformierten und symbolisierten Selbstverwirklichung im Beruf, in der Partnerschaft und im Kunststudium waren gescheitert. Als letzte Bastion ihrer Selbstverwirklichungsidee blieb der Körper. Die Patientin zwang mich, ihren Körper mit ihren eigenen Augen zu sehen, wollte totale Bestätigung in ihrer Sichtweise. Jeglicher Versuch einer Symbolisierung oder einer Deutung scheiterte. Ich wurde dann zum negativen Übertragungsobjekt, wollte ihre Selbstschöpfung verhindern, wurde beschimpft, moralisch und fachlich abqualifiziert oder die Patientin zog sich gekränkt in sich selbst zurück, geriet in schwere Krisen, verkroch sich in ihrer Wohnung, ließ sich verleugnen.

Ich fühlte mich benutzt und begehrte innerlich auf, entwickelte aggressive Fantasien sowohl auf den Körper der Patientin als auch auf den eigenen. Ich begann meinen eigenen Körper zu hassen und musste viel Arbeit aufwenden, um für mich immer wieder die symbolische Ebene der Selbstexistenz zu erarbeiten. Ich verstand aber auch, wie sehr die Patientin an ihren Körper gefesselt bleiben musste. Er war zum letzten Zufluchtsort  vor Desintegration und psychischem Zerfall geworden. Sie hatte auf ihren Körper als letztem Rettungsanker vor dem Selbstverlust zurückgegriffen. Sie hatte ihre Sprache verloren, ihre Fähigkeit zur Symbolisierung. Ihr Überleben war an  eine Selbstschöpfungsfantasie gebunden, dieser beraubt, wäre sie zerbrochen und hätte als letzte Rettung den Tod als Selbstausdruck inszenieren müssen.

In dem Roman Huren von Arcan wird etwas von dem gewalttätigen Hass in Sprache umgesetzt, was zuvor über den Körper agiert wurde. Dem Befreiungsschlag, der so lange über den Körper ausgefochten wird bis die Protagonistin ein anderes Mittel findet, nämlich die Sprache. Sie sagt: “Ich denke oft an meine Eltern, die eines Tages, wer weiß, diese Seiten lesen und daraus wohl kaum etwas anderes erfahren werden als die Geschichte meiner Hurerei, meiner Käuflichkeit als Frau, die ihnen beweisen wird, dass ich nicht von ihnen abstamme, dass ich nichts mit ihnen zu tun habe, dass ich tue, was ich will, und vor allem das was sie nicht wollen, nämlich mich Männern hingeben und zwar ganz gleich welchen, solange sie dafür bezahlen, was kann ich ihnen schon zu verstehen geben, allenfalls meinen Ekel, meinen radikalen Wiederstand gegen das Paar, das nicht altern will und sich langweilt, von denen der eine andere vögelt und der andere daran zugrunde geht, dass er nicht gevögelt wird, dass sich gegenseitig dafür angiftet zusammen zu sein, ohne irgend etwas Schönes zustande zu bringen, ohne etwas anderes zu können, als sich gegenseitig zu enttäuschen, als würden sie noch etwas voneinander erwarten, dabei sind sie enttäuscht, ohne etwas erwartet zu haben, was noch schlimmer ist, denn in diesem Fall werfen sie sich am Ende gegenseitig vor, so zu sein, wie sie sind, und es mit den Jahren immer mehr zu sein, da sie schon lange nichts anderes mehr wollen, als keine Antworten zu geben und nicht zu erwarten, jedenfalls werden sie nicht die Kraft aufbringen, bis hierher zu lesen, sie werden diese Sätze, die keine Geschichte erzählen nicht verstehen können, obwohl sie ihnen ähnlich sind, warum also sollte ich ihre Anerkennung brauchen, da dieses Buch doch alles aufzeigt, was mich von ihnen trennt, nein, in dieses Gebiet will ich sie auf keinen Fall eindringen lassen, sie würden nur zertrampeln, was sie noch nicht vollständig verdorben haben, jenen Teil von mir, der ihnen entgeht, weil sie nie daran gedacht haben, dass es mehr als einen Weg gibt, um dem Elend des Lebens zu entgehen“ (Arcan 2002, S. 45-46).

Das existentielle Ringen nach Selbstwerdung über den Prozess der Selbstschöpfung und der Sieg über den Vernichtungshass ihrer Erzeuger waren ganz an den Körper gebunden. Ich besann mich meiner körperanalytischen Ausbildung, zumal ich selbst körperliche Überreaktionen zeigte und eine unterschwellige Feindschaft zu meinem Körper entwickelte. Worte fassten die Qual der Patientin nicht, auch wenn ich versuchte zu verbalisieren. Manchmal fand ich keine Worte mehr, wenn  sie nach den Operationen verquollen, vernäht, mit Tamponaden versehen in die Praxis kam. Die Patientin blieb in sich gefangen und ich in mir. Die Kontaktebene war gestört.
Und doch ergriff mich ein Mitgefühl, wenn ich die verzweifelten Bemühungen der Patientin nach Erhalt der Integration wahrnahm.

Was macht nun ein analytischer Körpertherapeut damit? Konnte und sollte ich den Prozess der Desintegration aufhalten? Wie konnte ich dem Hass standhalten? Wie konnte es mir gelingen, mich nicht von dem Hass anstecken, mich nicht davon zerstören zu lassen? Was hätte die Patientin zu leisten? Musste sie ihre Selbstschöpfungsfantasie aufgeben? Ihren Hass umwandeln? Ihr Bedürfnis nach Selbstwerdung und Selbstverwirklichung auf eine höhere Ebene transformieren?

Die Verleugnung von Hass führt zu schweren Schädigungen, zum Teil zu eruptiven Ausbrüchen, die sich gegen das eigene Selbst oder gegen andere richten können. Hass ist nicht nur eine zerstörerische Kraft und ein energetisches Zerstörungspotential. Im Hass ist auch ein struktur- und formgebendes Potential enthalten. Eine Potenz, der eine wichtige Bedeutung zukommt und die leider viel zu wenig wahrgenommen und beachtet wird. So wird zum Beispiel im Hass gegen die Eltern oder auch im Hass auf den eigenen Körper nicht nur blinde Zerstörungswut thematisiert, vielmehr ist darin auch ein Bild, eine Fantasie, eine Vorstellung über und von sich selbst, also eine prospektive Fantasie, wie sie sich auch in Träumen zeigt, enthalten. Im Hass ist damit eine Kraft und Energie spürbar, die notwendig ist, um etwas zu verwirklichen, dass normalerweise derart von Grenzen eingeschränkt und tabuisiert ist, dass die normale aggressive Energie nicht ausreicht, um einen Schritt in die kontrollierte Entgrenzung zu tun. In allen Bereichen, in denen Kreativität gefordert ist, ist der Hass eine notwendige Komponente und damit Motivgeber für Veränderungsprozesse, die eine kontrollierte Entgrenzung erfordern. Im Bereich der Kunst gibt es dafür viele Belege, ich erinnere an die Dadaisten oder an Theaterinszenierungen von Kresnik, Texte und Stücke von Bernhard, von Schwab und frühe Stücke von Handke.

Hass gehört wie die Liebe in seiner archaischen Urgewalt zu den stärksten Stimulatoren menschlichen Lebens, Erlebens und Verhaltens. So bildet der Hass Grundlage für eine Form eines tiefen Erregungsprozesses, der wie eine hochgradige Energie die gesamte Physiologie und Psychologie des Menschen durcheinanderwirbelt, so, wie man es auch von der Liebe kennt. Wenn die Hassgefühle unter die Vorherrschaft des Ichs gestellt werden, bleibt der Hass, wenn man sich mit ihm beschäftigt, ein kreatives Potential. Nur wenn das Ich ausgeschaltet wird, kann es zu Formen des blindwütigen Hasses kommen, in der Folge zu blindwütiger Zerstörung. Aber selbst tiefste Zerstörungsvisionen enthalten immer noch, wenn auch extrem verborgen, eine unbewusste Fantasie oder Sehnsucht nach einem Neubeginn oder nach einer Neuorientierung. Hass beinhaltet eine Befreiungssehnsucht. Die Sehnsucht die alten übernommenen schweren Belastungen, die auf Körper und Seele drücken, die individuelle wie die überindividuelle Geschichte, die Macht und Archaik des kollektiven Unbewussten abzuschütteln und sich neu zu gebären, in einem Akt von Selbstschöpfung und einer Sehnsucht nach Unschuld. Diese Befreiungssehnsucht findet sich besonders deutlich in den Texten von Thomas Bernhard, der aufgrund seiner schweren körperlichen Schädigung, seiner Luft- und Atemnot, eine Hassbeziehung zu seinem Körper entwickelte, die es ihm ermöglichte, diese Energie des Hasses in den Dienst seines Ichs zu stellen.

Hinter der Dynamik des Hasses lässt sich eine Sehnsucht nach Erkenntnis, nach Freiheit, nach Unbeschwertheit, nach Unschuld und nach neuen sozialen Bezügen erkennen.

Wie wir es von anderen Tabuthemen kennen, die keine Möglichkeit und keinen Ort des Erlebens, Auslebens, Reflektierens erhalten, kann es dazu kommen, dass der unterdrückte Hass sich in den Körper konvertiert und sich dort an ein Organ, an Organsysteme oder auf Körperteile oder Körpersegmente fixiert oder in Form einer projektiven Abwehr als paranoide Fantasie zurückkehrt oder sich in sadistischen Vorstellungsbildern Ausdruck und Entlastung sucht.

Der erste Schritt zum therapeutischen Umgang mit dem Hass ist zugleich der schwierigste. Zur Bearbeitung des Hasses ist es notwendig, den eigenen Hass, sowohl den Selbsthass, als auch den sozialen Hass und den projizierten Selbsthass bei sich wahrzunehmen, zu akzeptieren und die Formen des Hasses zu reflektieren. Die Fixierung auf die negative Konnotation und Bedeutung des Hasses sollte überwunden werden. Natürlich lösen die Hassfantasien des Patienten beim Therapeuten heftige Gegenübertragungsgefühle aus. Folgen sind häufig Kontrollbedürfnisse, Straffantasien, massive Ängste um das Leben des Patienten oder um das eigene Leben und bringen so die Abwehrmechanismen des Therapeuten auf Trapp. Oder man verbündet sich mit dem Hass des Patienten, führt den eigenen an falscher Stelle ab, unterwirft sich masochistisch oder verliert schließlich gänzlich den Kontakt zum Patienten und es kommt zum Abbruch der Therapie.

Derrida zeigt in seinem revolutionären Text über die Seelenzustände der Psychoanalyse die Bedeutung und Verantwortung dieser Methode auf, mit der Grausamkeit, mit dem Unmöglichen, vielleicht auch mit dem Ungefühlten und dem „Nicht-Verhandelbaren“ umzugehen: „ Könnte eine solche Grausamkeit, wenn es sie denn gibt, und sie eine im eigentlichen Sinne psychische wäre, einer der der Psychoanalyse eigensten Horizonte sein? Ja, könnte er, dieser Horizont, nicht sogar der Psychoanalyse vorbehalten sein, als die bodenlose Tiefe dessen, was sie allein zu behandeln sich vorgegeben hätte, der letzte Grund, von dem sie sich eines Tages als Figur abhob?“ (Derrida 2002, S. 9). Und etwas später meint er: „Doch das, was vielleicht zu einer Aufgabe werden kann, morgen, für die Psychoanalyse, für eine neue psychoanalytische Vernunft, für eine neue psychoanalytische Aufklärung, ist eine Revolution, die wie alle Revolutionen mit dem Unmöglichen einen Vergleich schließen, das nicht verhandelbar gebliebene Nicht-Verhandelbare verhandeln und mit dem Unbedingten als solchem, mit der unbeugsamen Unbedingtheit des Unbedingten kalkulieren wird.“ (Derrida 2002, S. 89). Und sollte dieser Denkansatz nicht auch und gerade die körperanalytische Therapie untermauern?

In vielen Supervisionen habe ich die Erfahrung machen müssen, dass Hassgefühle des Patienten, aber auch die eigenen kaum thematisiert werden, stattdessen besteht immer eine gewisse Beschämung, wenn man als Supervisor die Hassdynamik in der Beziehungsstruktur aufdeckt und analysiert. Aber der Hass hat Strukturierungsqualität und eine spezifische Dynamik, die genutzt und verstanden werden kann. Dem Hass muss Raum gegeben werden, die Hassgefühle müssen anerkannt werden als kreative Leistung der seelischen Dynamik. Die Differenzierung zwischen sinnlosem und kreativem Hass erleichtert die Begegnung mit ihm. Da Scham- und Schuldgefühle immer mit Hassimpulsen einhergehen, sollten diese durchgearbeitet werden. Der Aufbau von Fantasieräumen, in denen Hassimpulse und Zerstörungsbilder auftreten und diese mit regressiven und progressiven Vorstellungsinhalten gefüllt werden, dient einer Differenzierung von blindem und bewusstem Hass. Hassimpulse die sich auf den eigenen Körper richten, lassen sich durch Hinwendung und Differenzierung der Körperräume und Körpersegmente erfühlen, entängstigen und begrenzen. Häufig steht hinter dem Hass die Sehnsucht nach Selbstschöpfung und Unschuld. Hat man im Körper den Ort des Hasses aufgespürt, kommt es meist zu einer tiefen Entlastung von Scham und Schuld und zu weiterem Ausdruck von Hassimpulsen. Wenn die Körperregionen durch die Kontakterfahrung begrenzt  und als Energiepotential wahrgenommen werden, stellt sich zwischen Patient  und Therapeut ein Ausdrucks- und Handlungsdialog her, der zu einer spürbaren Entlastung im sozialen und individuellen Feld führt.

Sind Ort und Qualität des Hasses entdeckt, bieten sich stimmliche, körperliche, visualisierte, symbolisierte Formen der Ausdrucksgestaltung an. Der Monolog kann dann zu einem Dialog werden. Der Hass und sein individueller Ausdruck erfordern  therapeutische Antwort. Jede Hassäußerung benötigt eine angemessene Akkommodation wie es in der körperanalytischen Therapie von Pesso beschrieben ist. Die Akkommodation vermittelt dem Patienten eine Wirkung seines Hassaffektes. Bleibt der Hass ohne Wirkungsantwort, kann er sich in ein blindwütiges, sinnloses Zerstörungsritual steigern, weil er als effektlos erlebt und gewertet wird. Zeigt der Hass aber Wirkung und regt Veränderungsprozesse an, kann er als Energiequelle und als dynamische Kraft erlebt werden.

Der Körperhass schützte meine Patientin vor Selbstverlust. Ihr Körperhass war  Ausdruck eines tiefen Selbstfindungswunsches, der einherging mit Fantasien und Vorstellungen über sich selbst und einer selbsterschafften Identität, einem Selbstschöpfungsmythos. Die körperliche Selbstidentität bildet die Basis für die nachfolgenden Symbolisierungen. Den Leib als Eigenes zu begreifen ist Voraussetzung für die seelische Individuation und dazu gehört der Hass als struktur- und energiegebendes Element.

Die Unterdrückung und Verleugnung von Hassimpulsen führt zu einer gefährlichen, bisweilen tödlichen Entladung, weil dem Ich, diese Energie nicht unterstellt wurde. Der Umgang mit Hassimpulsen und die bewusst und gelebte Form des Hasses tragen dazu bei, den schwierigen Weg zu sich selbst zu finden.

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Unfassbare Fremdheiten